Aus dem Eulenspiegel: Das Wetterbeobachter

Das Wetterbeobachter - einsam wie ein Brockengespenst im Nebel

Das Wetterbeobachter – einsam wie ein Brockengespenst im Nebel

Am liebsten ist das Wetterbeobachter mit sich selbst allein, bevorzugt auf hohen, möglichst unzugänglichen Bergen.

Nachdem das Wetterbeobachter auf  einer Wetterstation ausgeschlüpft ist, durchläuft es bis zu seiner vollständigen Reifung verschiedene Phasen der Vereinsamung:

  1. Phase: Selbstgespräche.
  2. Phase: Es akzeptiert absonderliche Verhaltensweisen der alteingesessenen, ausgereiften Wetterbeobachter als völlig normal.
  3. Es erschrickt vor der eigenen Stimme (Ende der Selbstgespräche).

Im Extremfall wird es zum Brockengespenst.

Trotzdem soll es dem Vernehmen nach bisweilen zu Vermehrungsaktivitäten kommen. Darauf deutet das Vorhandensein von Jugendlichen hin, die lieber Wetterbeobachter als z.B. Fußballprofi werden wollen. Vielleicht beeindruckt das Weibchen der zerzauste, obligatorische Bart des Wetterbeobachters?

Allerdings werden die Partnerin und die Nachkommen meist in nicht artgerechter Käfighaltung weitab von jeglicher Zivilisation domestiziert – sie wohnen mit dem Wetterbeobachter auf der Wetterstation.

Der natürliche Fressfeind des Wetterbeobachters ist der Wetterberater. Während das Wetterbeobachter das aktuelle Wetter dokumentiert, versucht der Wetterberater ähnlich wie Nostradamus in die Zukunft zu schauen. Insgeheim weiß das Wetterbeobachter natürlich, dass es selbst das viel besser könnte – darf es aber nicht.

Dummerweise fragen die Menschen aus seinem Umfeld – falls es solche gibt – aber immer: „Wie wird das Wetter?“ Nie fragt einer: „Wie ist das Wetter?“

Deshalb geht das Wetterbeobachter manchmal in den Wettergarten, streichelt ein altes Glasthermometer und weint ein bisschen.

Manchmal nimmt es auch ein Schlückchen gut abgelagerten Barometer-Quecksilbers zu sich und murmelt „Ach ja, das war ein guter Jahrgang…“

Wenn es „Schnee gerochen hat“ und es dann wirklich schneit, springt das Wetterbeobachter mitten in der Nacht bei klirrender Kälte auf dem Dach seiner Station auf und ab und schreit: „Es schneit, es schneit!“

Dagegen zuckt der Wetterberater, der keinen Schnee vorhergesagt hat, nur mit den Schultern und meint: “Wer nicht mit einer Fehlvorhersage leben kann, hat den falschen Beruf gewählt…“ oder „…ist eben immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage“ oder „Ich hasse diesen Scheißkerl, der Schnee riechen kann!“

Aber nicht nur im Gebirge trifft man den scheuen Gesellen, es lebt auch im Flachland, z. B. auf Flugplätzen. Auch hier ist es davon überzeugt, den schönsten Job der Welt zu haben – wenn nur nicht diese blöde Fliegerei bei der Arbeit stören würde.

Für die neumodische Sensorik und den ganzen elektronischen Krimskrams hat es nur triefende Verachtung übrig. Es sitzt melancholisch vor einem Computerbildschirm, liest mit großen Kinderaugen Berichte über die Assessoren des königlich-bayrischen Wetterdienstes, die um 1900 herum sechs Monate auf der Zugspitze auf sich allein gestellt waren und wartet auf den nächsten Fehler der Messtechnik.

Denn es gehört zu einer aussterbenden Art wie vor ihm das Leuchtturmwärter oder das Notenstecher. Bis 2022 will der Deutsche Wetterdienst die gesamte Wetterbeobachtung automatisieren.

Es ist verbürgt, dass ein angehender Wetterberater (siehe oben, was sonst) während seiner Ausbildung auf einer Bergstation als Wetterbeobachter eingesetzt war. Von seiner gehobenen Position aus schaute er im Nachtdienst im sogenannten Westfernsehen den Horrorfilm „Nebel des Grauens“ an, in dem ein Wetterbeobachter an einer Küstenstation beim Ablesen der Geräte im Wettergarten von einem untoten Seemann von hinten attackiert wird. Er schloss sich die ganze Nacht in der Station ein und erntete dafür die abgrundtiefe Verachtung der ganzen Spezies. Denn ein richtiges Wetterbeobachter hat nur vor einem Angst- dem NIL!

Damit ist aber nicht der Fluss oder das darin wohnende, manchmal ziemlich ungemütliche Pferd gemeint, sondern die aus dem Funkverkehr stammende Abkürzung für Null oder Nichts. Denn das bedeutet, dass die Meldung des Wetterbeobachters nicht „rausgegangen“ ist – eine größere Schande ist nicht vorstellbar.

Das Wetterbeobachter ist ein nichtproletarischer Internationalist. Es kennt keine Hautfarbe – Hauptsache, die Wetterhütte ist vorbildlich weiß.

Sprache? Das Wetter muss richtig verschlüsselt sein, dann kann es ja wohl jeder lesen, oder?

Nationalität? Unwichtig. Jede Station ist an den ersten beiden Ziffern dem Land zuzuordnen. 10 ist Deutschland. Basta.

Ein Wesen, das mit unzureichender Ausrüstung auf einen möglichst hohen Berg steigt, um dort mit sich allein zu sein. Sein verfilzter Bart weht im Wind. ..und schließlich stirbt es aus – das Geheimnis um Ötzi ist gelüftet.

Lutz Hornig (mit der Lizenz zum Wetterbeobachten)

Quelle: Eulenspiegel 10/2016, Veröffentlichung der Originalversion mit freundlicher Genehmigung des Autors